Meinung

Munich Security Report 2023: Westen gesteht seine Isolation ein

Der Munich Security Report wird im Rahmen der Münchner Sicherheitskonferenz herausgegeben. In diesem Jahr zeigt er die Widersprüche westlicher Argumentationen deutlich auf. Der Westen ist isoliert. Das spiegelt auch die Konferenz wider, auf der kontroverse Positionen draußen bleiben.
Munich Security Report 2023: Westen gesteht seine Isolation einQuelle: www.globallookpress.com © IMAGO/Jürgen Heinrich

Von Gert Ewen Ungar

Im Vorfeld der jährlich stattfindenden Münchner Sicherheitskonferenz geben die Veranstalter den Munich Security Report heraus. Er dient als Leitfaden und Orientierungshilfe für die Diskussionen, die dann ab diesem Freitag im Hotel Bayerischer Hof in München stattfinden. 

Der diesjährige Report steht ganz unter dem Eindruck des Ukraine-Konflikts. Ihm ist daher ein eigenes Kapitel gewidmet. Die Ukraine steht an der vordersten Front im Kampf der liberalen Demokratien gegen autokratische Revisionisten, behauptet die Münchner Sicherheitskonferenz. An diesem Paradigma hangelt sich auch der Munich Security Report entlang. Er macht dabei mehr oder weniger unfreiwillig auf die Widersprüche westlicher Argumentationen aufmerksam.

"Mit dem Angriffskrieg auf die Ukraine hat der russische Präsident Wladimir Putin den Konflikt zwischen unterschiedlichen Ordnungsvisionen jedoch zu einer brutalen und tödlichen Realität werden lassen", behauptet der Bericht.  

Mit diesem Statement sind die Begriffe der Debatte gesetzt. Das westliche Bündnis steht für liberale Demokratie und regelbasierte Ordnung. Diese Werte werden von revisionistischen, autokratischen Systemen wie China und Russland bedroht. Der Bericht wiederholt diese These mantraartig – vermutlich, weil den Verfassern klar ist, dass sie nicht stimmt. Denn die Geschichte, die sie erzählen, ist allzu schlicht und unterkomplex.

Sie lautet: Diese revisionistischen Autokratien verwehren ihren Bürgern ihre ureigensten Rechte, wie sie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgeschrieben sind, sowie ihre demokratischen Grundrechte. Diese Autokratien versuchen zudem, Länder und Regionen an sich zu binden und sie dem Einfluss der liberalen Demokratien zu entziehen. Es tobt ein weltweiter Machtkampf um Einflusssphären und um die Frage, in welchem Gesellschaftssystem Menschen künftig leben werden: in Freiheit und Wohlstand oder in einem System der Repression. 

Liberale demokratische Ordnung versus Autokratien

Mit seinem begrifflichen Instrumentarium erzählt der Munich Security Report nichts weniger als eine Geschichte vom Kampf Gut gegen Böse, der Seite des Lichts gegen die Dunkelheit. Das Problem an dem ganzen Polit-Kitsch ist, all das hat mit der Realität nichts zu tun. 

Das wird schon an einer einfachen Frage deutlich: Warum sollten die Länder der Welt vor die Wahl gestellt, ob sie frei, demokratisch und in immer weiter wachsendem Wohlstand oder unterdrückt und in Armut leben wollen, sich für Letzteres entscheiden? Aus einem ganz einfachen Grund, weil die allzu schlichte Erzählung, die der kollektive Westen über sich erzählt, nicht stimmt. Die Länder und Nationen treffen ihre Kooperationsentscheidungen aus rationalen Gründen. 

"Eine erneuerte liberale, regelbasierte Ordnung muss in dieser Ära des erbitterten Systemwettbewerbs nicht nur die Resilienz demokratischer Systeme stärken. Sie muss auch attraktiver für die breitere internationale Gemeinschaft werden, indem legitime Kritik an der bestehenden Ordnung und andere Anliegen, insbesondere aus dem 'Globalen Süden', mehr Berücksichtigung finden", schreiben die Autoren des Berichts. 

Man könnte diesen etwas bizarren Satz einfach zusammenfassen. Das Gute muss noch besser werden, damit es auch die Unentschlossenen überzeugt, sich nicht den dunklen Mächten anzuschließen. Dafür muss man auch mal Zugeständnisse machen. Damit ist das zentrale Problem umrissen. 

Globalen Süden mit ein paar Zugeständnissen abspeisen

Für die Länder außerhalb des kollektiven Westens gibt es mit dem Erstarken der Länder des Südens, mit BRICS und all den anderen jungen transnationalen Organisationen eine Alternative zum westlichen Bündnis. Das westliche Bündnis wird in seiner Dominanz, die sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion eingestellt hat, als neokolonial, als die Wiederholung gemachter, historischer Fehler empfunden.

Der kollektive Westen ist ein autokratisches System, das bedingungslose Unterordnung unter sein Wertesystem fordert. Wenn der russische Außenminister Lawrow in Afrika vom Kolonialismus des Westens spricht, rennt er damit offene Türen ein und kann sich sicher sein, dass ein ganzer Kontinent auf die geopolitische Alternative zur westlichen Kolonialmentalität gewartet hat.  

Auch der Munich Security Report stellt fest: "Viele afrikanische, lateinamerikanische und asiatische Regierungen haben sich nicht der offenen Kritik an Russlands Angriffskrieg angeschlossen. Mächtige Autokratien sind augenscheinlich nicht die einzigen Akteure, die mit den herrschenden Normen und Institutionen unzufrieden sind."

Was der Report hier implizit zugibt, ist die Isolation des Westens im Hinblick auf seine Einordnung des Ukraine-Konflikts und auf seine Sanktionspolitik gegenüber Russland. Seine Einordnung des Konflikts als unvorhersehbarer Überfall eines Landes auf ein anderes ohne jegliche Vorgeschichte konnte der Westen der Staatengemeinschaft nicht aufzwingen – schon hier wird ein massiver Einflussverlust deutlich.

Die Auffassung, sowohl die USA als auch die NATO und die EU würden eine Mitschuld tragen, wird von der übergroßen Mehrheit der Länder geteilt. Eine Sicht, die der kollektive Westen trotz aller gegenteiligen Beweise natürlich empört zurückweist und, sollte er in der westlichen Einflusssphäre vorgetragen werden, als "russisches Narrativ" und "russische Desinformation" gebrandmarkt. Ungeachtet dessen ist die Einordnung des Konflikts in seinen historischen Kontext natürlich richtig. 

"Am 24. Februar 2022 griff Russland nicht nur die Ukraine an, sondern auch die Grundprinzipien der Nachkriegsordnung", schreiben die Verfasser des Reports in der Zusammenfassung und isolieren sich auch mit dieser Aussage vom weltweit geteilten Konsens.

Verstöße gegen das Völkerrecht, Überfälle auf andere Länder und nicht durch den UN-Sicherheitsrat legitimierte militärische Aktionen hat es auch nach dem Zweiten Weltkrieg gegeben – vermehrt nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Nur war es dann in der Regel eine westliche Allianz, die hier Krieg als Mittel zur Durchsetzung ihrer Interessen eingesetzt hatte.

Völkerrecht und regelbasierte Ordnung

Der Sichtweise, es handele sich bei der militärischen Spezialoperation um einen Bruch des Völkerrechts, schließen sich viele Länder außerhalb des kollektiven Westens noch an. Der Sicht, es wäre das erste Mal in der Nachkriegsgeschichte und damit ein Präzedenzfall, der entsprechend hart geahndet werden müsse, nicht mehr. Es ist nur dieses Mal ein anderer Akteur als der sonst übliche. 

Das wirft auch ein Schlaglicht auf die vom Westen und auch von der Münchner Sicherheitskonferenz so viel beschworene regelbasierte Ordnung. Auch darauf gibt es außerhalb des Westens eine grundlegend andere Sicht. Die regelbasierte Ordnung ist keine Ordnung, die auf klaren und für alle gleichermaßen verbindlichen Regeln basiert, sondern eine Ordnung, in der vom kollektiven Westen willkürlich Regeln festgelegt werden, an die sich andere Länder zu halten haben, er aber nicht. Man kann dieses Argument mit der Geste der Arroganz wegwischen. Auf inhaltlicher Ebene dagegen argumentieren kann man nicht. Es ist vielfach bewiesene Tatsache.

Der Security Report deutet – vermutlich unabsichtlich – am Beispiel der Menschenrechte an, was das zugrunde liegende Problem ist.  

"Menschenrechte … sind ein zentraler Streitpunkt im wachsenden Systemwettbewerb. China, unterstützt durch Russland, führt den Widerstand gegen die universellen Menschenrechte und jene Mechanismen an, die zu ihrer Verteidigung geschaffen wurden. Pekings alternative Vision ist es, eine Welt zu schaffen, in der Regierungen, die ihre eigenen Bevölkerungen unterdrücken, wenig zu befürchten haben. Dafür versucht China international unter anderem, Kollektivrechten, definiert und durchgesetzt durch den jeweiligen Staat, Vorrang gegenüber individuellen bürgerlichen und politischen Freiheiten einzuräumen."

Die Behauptung, China würde gemeinsam mit Russland Widerstand gegen die universellen Menschenrechte leisten, ist einigermaßen erstaunlich und faktisch falsch. Was allerdings richtig ist, verbirgt sich hinter dem Begriff der "zu ihrer Verteidigung geschaffenen Mechanismen". Es lohnt ein genauerer Blick, was damit gemeint ist. 

Damit ist faktisch die Legitimation gemeint, aufgrund einer Schutzverantwortung in anderen Ländern intervenieren zu dürfen. Wer sich die junge Geschichte des Arguments "Intervention aus Schutzverantwortung" anschaut, wird schnell feststellen, es wird zur militärischen Durchsetzung geopolitischer Interessen missbraucht. Der Begriff meint darüber hinaus das vom Westen für sich beanspruchte Recht, sich in die inneren Angelegenheiten anderer Länder einmischen, dort Oppositionsbewegungen finanzieren, schulen und instrumentalisieren zu dürfen. An ihm wird deutlich, dass sich der kollektive Westen für überlegen hält. 

Einmischung in innere Angelegenheiten als westlicher Gestaltungsanspruch

Man will es im Westen nicht verstehen, bekennt sich zur Augenhöhe, aber genau diese Selbstermächtigung, sich überall einmischen zu dürfen, wird als neokolonial und hochproblematisch empfunden. Der Westen stellt sich und sein Wertesystem über das Völkerrecht und die Souveränität der Staaten.

Kollektiv- und Individualrechte stehen sicherlich immer in einem Spannungsverhältnis. Aber bestimmte Individualrechte wie LGBT-Rechte als weltweit verbindlich erklären zu wollen und darüber Einmischung zu legitimieren, ist sicherlich der falsche Weg. Zumal der Westen auch hinsichtlich von Individualrechten nicht widerspruchsfrei agiert, denn das individuelle Recht, in der Sprache zu kommunizieren, in der man will, hat sich in der Ukraine vom Westen ganz unwidersprochen dem Kollektivrecht unterzuordnen, das den Gebrauch des Russischen in der Ukraine streng reglementiert. Vor diesem Hintergrund wird auch eine andere Frage beantwortet, die der Report aufwirft. Warum wenden sich viele Länder China zu?

"Obwohl Chinas Modell in vielen Entwicklungsländern auf Resonanz stößt, hat dies mitunter weniger mit dessen Anziehungskraft zu tun als mit dem Mangel an Alternativen und der Unzufriedenheit mit der bestehenden Ordnung, die den Bedürfnissen vieler Entwicklungsländer nicht gerecht wird."

Dabei gibt es eine Alternative. Es gibt das Angebot des Westens zur Zusammenarbeit, was allerdings die bedingungslose Unterordnung unter sein westliches, koloniales Wertesystem fordert, das ausschließlich dem Westen und seinem Machterhalt dient. 

Der Report suggeriert, mit dem Drehen an ein paar Stellschrauben sei das Problem zu beheben. Das ist nicht der Fall. Das Problem ist grundlegender Natur. Es lässt sich nicht dadurch korrigieren, dass man ab und an die Interessen der Länder des Globalen Südens Beachtung schenkt. Es lässt sich nur dadurch beheben, dass der kollektive Westen auf seinen Anspruch auf Exzeptionalismus verzichtet, zum Völkerrecht zurückkehrt und wieder Teil der Weltgemeinschaft wird, – ohne den Willen, Richtung und Takt für alle vorgeben zu müssen. 

Ukraine und ihr Verhältnis zur EU

Ein besonders bizarres, für den geistigen Zustand des Westens signifikantes Kapitel, ist das über die Ukraine. Es scheint, der Westen greife inzwischen zu jedem Strohhalm, um sich selbst zu versichern, dass er auf der richtigen Seite der Geschichte steht. Dort wird mit einer Umfrage die Unterstützung der Ukraine legitimiert, die im November 2022 durchgeführt worden sein soll.

Ergebnis: Die Ukraine sieht ihre Zukunft in Europa. Dabei findet sich im entsprechenden Kapitel zur Methodik kein Wort, sondern nur Grafiken, die von einer beeindruckenden Zustimmung zur EU und zum Westen allgemein und einer fundamentalen Ablehnung Russlands künden. Man fragt sich, wo diese Umfrage stattgefunden hat und inwieweit sie repräsentativ für die ganze Ukraine ist.

Es ist nicht nur evident, sondern aufgrund der aktuellen Realitäten im Südosten der Ukraine naheliegend, dass ein relevanter Teil der Bevölkerung, den der Westen immer noch zur Ukraine zählt, nicht befragt wurde. Das aber wäre typisch für den gesamten Umgang des Westens nicht nur mit dem Ukraine-Konflikt. Was nicht ins ideologische Konzept passt, wird einfach ausgeklammert und übergangen. Genau das aber hat zur Legitimationskrise des Westens geführt.

Denn faktisch ist es längst umgekehrt, wie vom Report behauptet: Es ist der Westen, der als autokratisch und repressiv erlebt wird. In seiner Umgehung, in der Kooperation mit Russland und China, eröffnen sich dagegen Perspektiven, wie sie vom Westen mit seinem hegemonialen Anspruch nie geboten wurden. 

Mehr zum Thema – Münchner Sicherheitskonferenz schließt erstmalig AfD von Teilnahme aus

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Am 24. Februar kündigte der russische Präsident Wladimir Putin an, gemeinsam mit den Streitkräften der Donbass-Republiken eine militärische Spezialoperation in der Ukraine zu starten, um die dortige Bevölkerung zu schützen. Die Ziele seien, die Ukraine zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren. Die Ukraine spricht von einem Angriffskrieg. Noch am selben Tag rief der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij im ganzen Land den Kriegszustand aus.
Der Westen verurteilte den Angriff, reagierte mit neuen Waffenlieferungen, versprach Hilfe beim Wiederaufbau und verhängte Sanktionen gegen Russland.
Auf beiden Seiten des Konfliktes sind zahlreiche Soldaten und Zivilisten getötet worden. Moskau und Kiew haben sich gegenseitig verschiedener Kriegsverbrechen beschuldigt. Tausende Ukrainer sind mittlerweile aus ihrer Heimat geflohen.